Scheinschlag vom 17.06.1998: 
 

Elektronische Einsamkeit

Der Horror der Zukunft, wenn jeder Mensch mit der ganzen Welt vernetzt ist, doch in der Isolation des multimedialen Heimes kein soziales Leben mehr führt. Entgegen der allgemeinen Euphorie der meisten Diskussionen über Internet und neue Medien setzen die Autoren des Medientheorie-Kollektivs Agentur Bildwelt mit ihrem aktuellen Buch einen überraschend unpopulären Gegenakzent. In "Elektronische Einsamkeit" verbreiten sie einen unter Multimedia-Anhängern als konservativ tabuisierten Pessimismus: die neuen Kommunikations- und Arbeitstechnologien beschleunigen noch die in nachindustriellen Gesellschaften ohnehin rasant voranschreitende Vereinzelung und Vereinsamung.

Nicht zufällig stand die Präsentation dieses Buches im Mittelpunkt der ersten Mikro Lounge, die seit März an jedem ersten Mittwoch eines Monats im WMF stattfindet. Ein Beweggrund für die Veranstalter von Mikro e.V (www.mikro-berlin.org) für die Organisation dieses kleinen Clubs bestand darin, die zahlreichen Kontakte, die sie als Medienkünstler, ­ theoretiker und Netz-Aktivisten im virtuellen Raum geknüpft hatten, durch Treffen an einem physischen Ort zu ergänzen.

Was zunächst als Club für Eingeweihte begann, entwickelt sich seitdem zu einer unentbehrlichen Ergänzung zur Kommunikation mit mehr oder weniger gut gestalteten Benutzeroberflächen. Dabei verlaufen die Abende im realsozialistisch-charmanten Interieur der WMF-Bar ganz und gar nicht pessimistisch, sondern ausgesprochen entspannt und unangestrengt. Wie es sich für einen Club gehört, der mehr ist als nur Plauderplatz für Gleichgesinnte, gehen die Themen der Lounges, z.B. Überwachung im Netz oder der Einfluß von Computerspielen, auf die Erschaffung einer virtuellen Welt über das bloß Unterhaltsame hinaus.

Beim Herumloungern zwischen Videoinstallationen und alten Polstersesseln denkt man sich dann: Es ist möglich und unentbehrlich, Beziehungen aus dem virtuellen in den konkreten Raum hinein zu vertiefen, und sei es nur, umsich an vollkommen konventionellen Diskussionsrunden zu beteiligen. Solche Gesprächsforen bieten eine Gleichzeitigkeit von sinnlichen Wahrnehmungen und spontanen Reaktionen in einer hier und jetzt präsenten Öffentlichkeit, die im Netz (noch) nicht zu haben sind.

Am deutlichsten war dies bei den "net. radio days "98" zu spüren, die Mikro e.V. zusammen mit dem Berliner Netz-Radio connex.tv (www.art-bag.net/connextv) veranstaltete. "Was ich über NetRadio denke? Stell dir vor, das gaaaanze Universum ist in diesem kleinen Raum", so eine Teilnehmerin dieses Treffens von Net. Radio-MacherInnen zwischen Kassel, Riga und Sydney. Radio im Internet bedeutet zum einen die Bereitstellung von Audio-Archiven, die von einer Webseite aus abgerufen werden können, und hat insofern reichlich wenig mit seinem Rundfunk-Pendant gemeinsam. Zum andern, und im Moment noch in astreiner LoFi-Qualität, bietet es die Möglichkeit von "live streams", Direktübertragungen von Sprache und Musik, Texten und Grafiken, die im Gegensatz zum herkömmlichen Radio interaktiv sein können und das Mixen verschiedener Programme erlauben. Wer bei seinen Reisen durch das Web noch nicht in den Genuß dieser Pioniertechnologie kam, konnte an einem interurbanen DJ-Set im Kunst+Technik teilhaben, bei dem die Musik von DJ"s, die in verschiedenen Städten Europas auflegten, mal nacheinander, mal gemixt, immer in einem fließenden Stadium zu hören war. So steckte zwar noch nicht das ganze Universum, aber doch ein halber Kontinent in einem kleinen Raum.

Markus Sailer

Die nächste Mikro Lounge findet am 1.7. zum Thema "Cyberfeminism" statt.

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© G+J BerlinOnline GmbH, 17.06.1998