Kei Ishii & Bernd Lutterbeck  
Technische Universität Berlin  
Forschungsgruppe Internet Governance  
17. Juli 1999  
 
RealVideo: Modem | ISDN                
 

Open Code and Open Societies [1]

Wizards of OS: Offene Quellen und Offene Software
16.-17.7.1999, Haus der Kulturen der Welt, Berlin


Inhalt


Die Fragestellung:
Ever the Imperialist, Ever the Lawyer

Lawrence Lessig von Harvard ist wahrscheinlich derjenige amerikanische Rechtswissenschaftler, der der Open Source-Bewegung am nächsten steht.  

Kürzlich hat er einen Vortrag gehalten mit dem schönen Titel : Open Code and Open Societies: Values of Internet Governance[1]. Er erzählt darin von einem Dialog mit seinem jungen Assistenten Joe Reagle. Joe arbeitet an Internet-Protokollen des W3-Konsortiums, wechselt so ziemlich täglich seine Haarfarbe, er sei aber der beste <<techno policy geek>>, den er überhaupt kenne, meint Lessig.  

Du lehrst doch die impliziten Werte unser Verfassungstradition, sagt Joe Reagle eines Tages. Du argumentierst immer wieder, daß wir diese Werte der Verfasung, wie etwa die Meinungsfreiheit, in den Cyberspace übertragen müssen. Wie steht es aber mir den Werten, die der Tradition des Internet zugrunde liegen? Warum sollten wir nicht diese Werte identifizieren und auf die reale Welt übertragen?  

Lawrence Lessig überlegt nur kurz. Joe hat recht, resümiert er : Ever the imperialist, ever the lawyer. Ich habe immer angenommen, daß die reale Welt dem Cyberspace viel zu erzählen hat. Aber es könnte doch genau umgekehrt sein.  

Lawrence Lessig und ich sind als Juristen ausgebildet. Wir wissen sofort, was es heißt, wenn man Joe Reagles Umkehrung der Fragestellung für möglich, vielleicht sogar für erfolgversprechend hält: Joe Reagle stellt in Wahrheit die Machtfrage. Wir wissen, wie sie normalerweise entschieden wird. Ever the imperialist, ever the lawyer.  

Inzwischen habe ich einige praktische Erfahrungen mit dieser Umkehrung der Fragestellung gemacht, die ich mit Joe Reagle und Lawrence Lessig wohl gemeinsam habe. Ich habe sie mehrfach, angereichert mit Beispielen aus dem Urheberrecht, vor durchaus illustren deutschen Juristen vorgetragen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meiner beruflichen Laufbahn öffentlich so beschimpft worden zu sein wie bei diesen Gelegenheiten. Unsinn habe ich sicher auch schon vorher erzählt. Das alleine wird es nicht gewesen sein. Was veranlaßt dann erwachsene, sonst so besonnene und gestandene Juristen, öffentlich so zu pöbeln? Ich kann Gleiches von einem Kollegen berichten, der ein ziemlich bekannter Philosophieprofesor in Deutschland ist. Er hat es gewagt, in seinem neuesten Buch eine ähnliche These zu vertreten. In einer Rezension bescheinigt ihm der eigenem Anspruch nach führende Cyberlaw-Spezialist der Bundesrepublik eine Nähe zu national-sozialistischem Gedankengut und eine rechtsphilosophische Naivität und Unbedarftheit, die er nirgendwo anders gelesen habe.  

Wo so geholzt wird, scheinen die Argumente ziemlich nahe dem Zentrum der Macht zu sein. Ever the imperialist, ever the lawyer. Offensichtlich empfinden manche Leute etwas als bedrohlich, was man auch in einer nüchternen Gleichung festhalten kann:  

Das Internet und die Ökonomie sind ein Bündnis eingegangen – mit dem Ergebnis, daß sich traditionelle ökonomische Modelle jedenfalls teilweise überlebt haben.  

Da das Recht jedenfalls teilweise ökonomische Sachverhalte abbildet, muß es sich diesen Veränderungen unter Umständen anpassen.  

Dabei ist es möglicherweise aussichtsreich, die Werte, die das Internet und Open Source erfolgreich gemacht haben, der Modellierung künftiger Regularien zugrunde zu legen.  

In dieser Sicht ist das Internet und Open Source ein Modell der Informationsgesellschaft.  

Die Fakten:
Regulierung durch Code oder Lex Informatica

Die Umkehrung der Fragestellung also: Tradition und Realität des Cyberspace kann dem Recht etwas erzählen. Aber was?  

Ich möchte hier zwei Anregungen geben: Eine zur Modellbildung und eine zu den Werten.  

Modellbildung

Zunächst zur Modellierung. Es ist wohl allgemein bekannt, daß das Recht reguliert, es ist ein Regulierungssystem.  

Das bedeutet:  

  • Es reguliert innerhalb eines gesetzten Rahmens – dem physikalischen Territorium
  • Die Regulierungsinhalte oder -instrumente sind Vorschriften wie Gesetze, Verordnungen, oder Gerichtsurteile
  • Es gibt Regeln, die sich anpassen lassen, beispielsweise der Vertrag
  • Diese können durch verschiedene Anpassungsverfahren und mit verschiedenen Kosten angepaßt werden: entweder auf implizite Weise (z.B. beim Einkauf im Supermarkt), mithilfe von Standardverträgen (Arbeits-, Kauf-, Dienst- oder Werkvertrag), oder durch individuelle Aushandlung auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten werden.
  • Die hauptsächliche Durchsetzung erfolgt durch Gerichte mit der staatlichen Exekutive im Hintergrund.
  • Quelle, wie wohl gemeinhin bekannt, ist der Staat.
Die erste Anregung, den ich Ihnen nahebringen möchte, ist dieser:  
Das wichtigste Regulierungssystem im Cyberspace ist der Code – Software, Protokolle und Standards.
Der Code bestimmt, was man auf seinem Computer oder im Internet machen kann und was nicht, bestimmt und begrenzt die Möglichkeiten der Nutzung. Man bezeichnet dieses Regulierungssystem auch als Lex Informatica[2] 
Recht Lex Informatica
Rahmen physikalisches Territorium Netzwerk
Inhalt Vorschriften/Gerichtsurteile Technische Fähigkeiten  

Gewohnheitspraktiken

Anpaßbare Regeln Vertrag Konfiguration
Anpassungsverfahren implizit (niedrige Kosten)  

Standardformen (mittlere Kosten)  

individuelle Aushandlung (Hohe Kosten)

Standardkonfiguration  

Installierbare Konfiguration  

Benutzerauswahl

Hauptsächliche  
Durchsetzung
Gericht Automatisiert, Selbstausführend
Quelle Staat Informatiker, Techno-Geeks
Werte "Verfassungstradition" ???
Auch hier haben wir also die für Regulierungssysteme charakteristischen Elemente:  
  • Der Rahmen: Selbstverständlich das Netzwerk
  • Die Inhalte: Dies sind die technischen Möglichkeiten, die der Code vorgibt, und die Praktiken, die von diesen Möglichkeiten benutzt werden.
Ein Beispiel: Das HTTP-Protokoll gibt vor, auf welche Weise durch ihn kommuniziert werden kann: Es reguliert – zusammen mit der Software, also dem Apache-Server – die spezifischen Möglichkeiten dieses Dienstes.  

Aber sicher werden nicht alle Möglichkeiten, die das Protokoll bietet, auch genutzt werden. Vielleicht implementiert der Apache-Server bestimmte Protokollelemente nicht, da sie sowieso keiner benutzt. Technische Fähigkeiten und Gewohnheitspraktiken also.  

  • Auch der Code läßt sich – soweit vorgegeben – anpassen an die jeweiligen Bedingungen. Alle Computernutzer werden dies kennen: Voreinstellungen von Programmen, Service Packs und Makefiles, Systemerweiterungen oder Nutzerpräferenzen: Hier werden die Regeln des Codes von Benutzer, durch Standardkonfiguration oder bei der Installation angepaßt.
  • Die hauptsächliche Durchsetzung erfolgt unmittelbar. Wenn ein Browser keine Einstellung bietet, die Cookies abzuschalten, so wird diese Regel einfach durchgesetzt (ich sprach ja nicht davon, daß man die Regel nicht umgehen kann – durch Wahl eines anderen Browsers. Schmerzlicher schon, wenn die Durchsetzung beim Internetprovider passiert...
  • Und schließlich eine wichtige Konsequenz dieses Modells der Lex Informatica:

  • Die Quelle der Regulierungen, die Regulierer in diesem System sind Informatiker, 'Techno-Geeks', und Nutzer
Sie bestimmen über die technischen Fähigkeiten der Software, Möglichkeiten und Optionen von Standards und Protokollen, und die jeweiligen Anpassungen – Einstellungen ihrer Software.  

Meine erste Anregung also – Lex Informatica, und Sie selber sind Regulierer.  

  

Werte von Internet und Open Source

Erinnern Sie sich an Joe Reagle: Werte der Verfassungstradition, des Rechts, klar. Aber die Werte, die der Tradition des Internets, der Open Source zugrundeliegen?  

Hier ist die zweite Anregung, die ich Ihnen heute nahebringen möchte: Diese Werte des Cyberspace, der Lex Informatica, stehen hinter dem Erfolg des Internets, der Open Source-Bewegung.  

Je klarer wir uns dieser bewußt werden, je deutlicher man sie herausschälen kann, desto besser. Für einen Dialog mit Juristen. Für die Lex Informatica. Und für Open Source und Cyberspace.  

Ich habe versucht, Umrisse zwei solcher Werte zu skizzieren. Und Sie werden sehen, es klingt so gar nicht spektakulär, so neu. Genau das macht ja einen Wert aus, daß er implizit in den Menschen und ihren Tätigkeiten vorhanden ist.  

Aber es ist gar nicht leicht, Selbstverständlichkeiten auf den Begriff, als Grundwert zu formulieren, explizit in Worte zu fassen.  

  1. Die Open Source Initiative arbeitet zur Zeit an einer Open Source Definition[3], die so etwas wie die Essenz der verschiedenen Lizenzen darstellt.
  2. Darin habe ich eine Regel gefunden, die diesen ersten Wert für deren Zwecke so faßt:  

    No Discrimination Against Fields of Endeavor
    [4]  
    Eine Open Source soll man lesen, studieren, kopieren, modifizieren und weiterentwickeln können, ohne auf irgendein Anwendungsgebiet beschränkt zu sein. Niemand darf die Zwecke bestimmen, für die die Software benutzt oder weiterentwickelt wird.  

    Lessig nennt dies "Open Forking"[5], also Offenheit des Codes, sich in beliebige Richtungen zu verzweigen.  

    Und dieser Wert ist auch im Internet zu finden, z.B. bei den Sourcen von HTML-Seiten, die beliebig angesehen, kopiert, modifiziert und weiterverwendet werden können.  

    Vielleicht ein alter Hut für gestandene Open-Sourcer. Aber gerade darum: ein Grundwert der Open Source.  

    Eine Bedingung für diesen Wert ist es aber zum Beispiel – das sprach Dirk Hohndel (SuSE) gestern nebenbei an –, daß zu einem 'genialen Code' auch eine 'anfängerverständliche Dokumentation, Kommentare' gehören. Je klarer der Code, desto mehr können ihn verzweigen, desto stärker kann dieser Wert durchgesetzt werden.  

  3. In mehreren Vorträgen gestern klang der zweite Grundwert mehrfach an, und auch unser Vorredner Prof. Szyperski erwähnte ihn. Aber nicht als spektakuläre Aussage, sondern einfach so, nebenbei.
  4. So Claus Kalle über die Arbeit der Internet-Gremien (Internet Engineering Task Force, IETF):  

    "Nur interoperierende, funktionierende Implementationen zählen"

    Und Kalle Dalheimer zum Projekt KDE:  

    "Projektleiter ist nicht der mit dem höchsten akademischen Grad, längste Zugehörigkeit oder lautestes Mundwerk, sondern der beste Entwickler"

    Dahinter steckt ein ganz zentraler Wert der Open Source, des Cyberspace und vielleicht sogar für eine wie auch immer geartete <<Informationsgesellschaft>>:  

    Nicht durch akademischen Grad, Seniorität, lautes Mundwerk, nicht durch königliche Geburt, formale Verfahren, oder Wahlen wird man Projektleiter.  

    Jeder darf teilnehmen, mitmachen. Und die Autorität gewinnt man durch die funktionierende Implementation, durch "running code", als bester Entwickler.  

    Der Wert ist also, daß jeder – ungeachtet seines Standes – durch seine Arbeit an Reputation, an Autorität gewinnen kann. Die Offenheit, daß jeder einen Beitrag leisten kann, und daß er nur danach bewertet wird und Autorität, Vertrauenswürdigkeit erlangt.[6]

Soweit diese Umrisse von Werten. Aber wozu nützt das Modell von Lex Informatica, nützt die Arbeit, ihre Werte herauszuarbeiten?  

Ever the imperialist, ever the lawyer. Für die meisten Juristen – insbesondere deutsche – scheint es nur ein Regulierungssystem zu geben, nämlich das Recht.  

Aber wie man gesehen hat, gibt es mit der Lex Informatica ein gleichrangiges Regulierungssystem. Sie besitzt Grundwerte, hat Verfahren und Regulierer.  

Verfolgt man diesem Gedanken weiter, so muß das Verhältnis zwischen Cyberspace und Recht – und die Ökonomie als Dritten im Bunde – neu bestimmt, neu erstritten werden.  

  

Die Lösung:
Internet Governance statt starrer rechtlicher Regularien

Wesentlich für den Erfolg von LINUX und anderer freier Software ist das Entwicklungsmodell. Der finnische Student Linus Torvalds, der die Entwicklung von LINUX 1991 angestoßen hat, beteiligte von Anfang an eine Vielzahl von Fachleuten, die natürlich über das Internet miteinander verbunden waren, in aller Welt an der Programmentwicklung. Entstanden ist so ein "riesiges Unternehmen ohne Mauern, ohne Aktionäre, ohne Gehälter, ohne Werbung und Einkommen" (Le Monde), ein Unternehmen, das mit einer einfachen Methode das Produkt immer besser gemacht hat: Jeder macht Anstalten, LINUX zu verbessern und jeder bekommt das bessere Ergebnis zurück.  

Offensichtlich werden so große Werte erzielt, die aber mit Geld nichts, oder doch praktisch nichts zu tun haben. Andererseits muß auch Linus Torvalds das Geld für seine Pizza von irgendwo und irgend jemand herbekommen.  

In diesem ökonomischen Mikrokosmos führt also minimaler Einsatz von Ressourcen (Assistentengehalt, Transaktionskosten im Internet) zu einem maximalen Ergebnis. Im Gegensatz dazu entwickelt Microsoft als absoluter Marktführer und Quasi-Monopolist mit hohem Kapitaleinsatz Produkte, die in ihrer Qualität vermutlich sogar schlechter sind. Man kann sagen, daß dieses Entwicklungsmodell der Open Source-Bewegung auf alternative Entwicklungspfade in der Marktwirtschaft verweist und vielleicht deshalb von der Fachöffentlichkeit noch nicht zur Kenntnis genommen wird. Statt dessen ist diese Fachöffentlichkeit von Ökonomen und Juristen im Bündnis mit der deutschen und europäischen Politik dabei, die Entwicklungsstrategie von Microsoft & Co mit Hilfe des Urheberrechts zu verfestigen.  

Das klassische Urheberrecht ist in seiner ökonomischen Wirkung ein temporäres Monopolrecht. Durch gezielte Wettbewerbsbeschränkungen, die dem Schöpfer geistiger Werke eingeräumt werden, will man Wettbewerb ermöglichen. Der europäische Gesetzgeber und in seinem Gefolge Deutschland haben schon früh die ökonomische Relevanz der Informatik mit ihren Produkten erkannt und entsprechende Regelungen erlassen: Eine Computerprogramm-Richtlinie; eine Vermietrechts-Richtlinie, Kabel- und Satelliten-Richtlinie, Schutzdauer-Richtlinie und Datenbank-Richtlinie; eine Richtlinie, die den Rahmen für das europäische Urheberrecht setzen will, ist in der Diskussion. Das ökonomische Modell dieser Konzepte unterstellt, daß Geist eine knappe Ressource ist, dessen Entfaltung durch besondere Wettbewerbsbeschränkungen geschützt werden muß. Im klassischen Konzept mußten geistige Werke eine bestimmte "Schöpfungshöhe" vorweisen können, um in den Genuß der urheberrechtlichen Monopolrechte zu kommen. Inzwischen ist dies Einschränkung weitgehend aufgegeben worden, insb. im sog. sui generis Schutz von Datenbanken, der durch das neue Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG) des Bundes schon in deutsches Recht umgesetzt wurde. Ein prinzipieller Unterschied zwischen einem Autor wie Goethe mit seinem Faust und einer Firma, die ein Telefonbuch herausgibt, wird nicht mehr gemacht. Diese Regelungen haben für das Internet – der Basisstruktur der Informationsgesellschaft – nachgerade absurde Konsequenzen: Fast jede Sammlung von Hyperlinks und die meisten Zusammenstellungen von Informationen aus Homepages unterstehen damit dem Schutzregime des seit 1. Januar 1998 geltenden Urheberrechts. Es gewährt dem Datenbankhersteller etwa ein 15 Jahre währendes Recht, die Datenbank zu verändern, zu vervielfältigen etc. Mir kommt es hier weniger auf den verfassungsrechtlichen Gehalt dieser Regularie an, denn man könnte mit guten Gründen einen Verstoß gegen die Informationsfreiheit annehmen. Wichtig ist mir der Hinweis auf das problematische ökonomische Modell, das diese Regularien abbilden. Urheberrechte sind geschichtlich entstanden aus dem stetigen Kampf der Schöpfer geistiger Werke gegen die Willkür des jeweiligen Souveräns. Autoren sollten ihre Rechte aus sich selbst erhalten und mit ihren Werken auch verdienen können. Am Ende dieses Kampfes stand 1883 die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst, die das Prinzip freien geistigen Schaffens weltweit legitimierte und ökonomisch hoffähig machte.  

Die erwähnten Richtlinien und Gesetze haben nun diesen Ansatz nach der Formel Onlinerecht = Offlinerecht im großen und ganzen unverändert auf Software, Netze und Datenbanken übertragen. Es gibt jetzt aus der Sicht des Urheberrechts keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen Goethes Faust, dem WINDOWS NT-Betriebssystem und einer strukturierten Linksammlung auf meiner Homepage. Vor einer solchen Entwicklung hatte der Supreme Court der Vereinigten Staaten in seiner berühmten "Feist-Entscheidung"[7] von 1991 noch gewarnt. Der Einsatz von noch soviel Kapital für die Entwicklung eines Produktes könne keine Rechtfertigung für die Begründung von Urheberrechten sein.  

Die aktuelle Rechtsentwicklung in der Welt hat zwar diese Warnung außer acht gelassen, doch zeigt ein so hochrangiges Votum immerhin, daß auch andere Fachleute eine grundlegende systemische Fehlentwicklung befürchten. Dabei ist die ökonomische Rationalität der Supreme Court-Entscheidung offensichtlich. Der Wettbewerb um immer höhere Qualität muß nicht durch Urheberrechte geschützt werden. Im Gegenteil: Hohe Qualität wird durch Urheberrechte verhindert. Wo es unbillig zugeht, kann Lauterkeitsrecht oder irgendein anderes neues Rechtsgebiet Abhilfe schaffen. So hat es den Anschein, als würde der vorhandene europäische Regulierungsansatz die jetzt schon Starken begünstigen.  

Man erkennt an diesem Beispiel, daß es sich bei den unterschiedlichen Entwicklungsstrategien von Open Source und beispielsweise Microsoft nicht um den allseits bekannten Kampf Marktwirtschaft gegen staatlich regulierte Wirtschaft handelt, denn beide Strategien können miteinander verbunden werden. Ob diese Verbindung die zukunftsweisende Variante ist, läßt sich gegenwärtig nicht beweisen. Ich neige dazu, sie zu bejahen: Denn die LINUX-Entwickler und viele andere moderne Unternehmen haben ein entscheidendes Moment der Informationsgesellschaft besser als andere verstanden und umgesetzt. Das Netz wird nicht nur zur Datenübertragung genutzt wie beim herkömmlichen Geschäftsverkehr, sondern seine dezentrale Struktur ist Moment der Produktion von Dienstleistungen selber. In diesem Sinne ist das Netz der Markt, ein Markt, den die vielen Menschen auf der Welt bilden. Natürlich wird dieser Markt wie andere auch ohne Regeln nicht funktionieren können.  

Es gibt aber gute Gründe für die Annahme, daß klassische Regulierungsansätze dieser neuen Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden. In der internationalen Diskussion ist es üblich geworden, die nötige andere Sicht durch den Begriff Internet Governance auszudrücken. Dieser Begriff betont die weichen Übergänge zwischen verschiedenen Regulierungstypen, sieht Selbstregulationsmechanismen und Lex Informatica vor und legt geringeren Wert auf rechtliche Regeln. Deutschland und die Europäische Union täten gut daran, diese Philosophie mindestens solange zu übernehmen, wie das Netz sich in der augenblicklichen Dynamik entwickelt. Hierfür gibt es nicht nur ökonomische Gründe – die Menschen, die schon in der Informationsgesellschaft angekommen sind, sind nicht mehr die gleichen, die die Industriegesellschaft am Laufen gehalten haben.  

Was heißt dies alles zusammengefaßt:  

Erstens:  

Die Werte der Open Source-Bewegung haben sich deshalb durchgesetzt, weil sie eine adäquate Antwort auf die Organisation der von mir aus so zu nennenden Informationsgesellschaft sind. Open Source ist die richtige und zukunftweisende Antwort auf einen neuen Gesellschaftstyp.  

Zweitens:  

Wenn aber, wie wir behaupten, Open Source Pate stehen kann und soll für das Modell von Gesellschaft überhaupt, dann muß der kozeptionelle Rahmen der Betrachtung erweitert werden. Es geht nur auch um die Offenlegung von irgendwelchen Programmsourcen. Es geht um das Prinzip der Offenheit in modernen Demokratien insgesamt. Wieder kann man von Lessig lernen, was Offenheit in diesem weiten Sinne zumindest beinhalten muß:  

Natürlich Open Source, oder Open Code, wie er es nennt.  

Darüberhinaus aber:  

  • Open Governance
  • Open Education
  • Open Content
  • Open Security
Und selbstverständlich  
  • Open Law.
So ungefähr müßte eine juristische Programmatik von Open Source aussehen.  

In Deutschland sind wir noch Lichtjahre von einem solchen Ansatz entfernt. Es lohnt sich also, Lawrence Lessig im Berkman Center for Internet and Society der Harvard Law School einmal zu besuchen.  

Lessig und wir haben ein weiteres Anliegen gemeinsam:  

Manche Netzaktivisten, der frühe Barlow etwa[8], neigen dazu, die eigenen Positionen zu überschätzen. Keine noch so gute offen gelegte Software wird je in der Lage sein, die Unterschiede von arm und reich, von gerecht und ungerecht abzuschaffen. Immer muß der Schutz der Schwachen organisiert werden. Das müssen spezielle Agenten übernehmen. Es gibt viele gute Gründe, dem Staat, vor allem dem deutschen Staat insoweit eher zu mißtrauen. Falls wir aber zur Auffassung gelangen, daß manche Werte vom Staat am ehesten geschützt werden sollten, sollten wir nicht zögern, den Staat mit dem Schutz dieser Werte zu beauftragen.  

Wir wissen jetzt genug, um eine Prognose zu wagen: Dieser Staat ist nicht mehr der alte Macho und Hierarch, dem unsere Eltern noch zugejubelt haben. Er kooperiert mit uns in einem Geflecht, für dessen Stabilität Informatiker und Techno-Geeks verantwortlich sind. Jurist, der ich nun einmal bin, träume ich seit Jahrzehnten davon, daß, es so gelingen möge, eine überkommene Weisheit jedenfalls ein wenig zu widerlegen:  

Ever the imperialist, ever the lawyer.

  


Literatur

Barlow, John Perry 1996:
Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace v. 8.2.1996. Deutsche Übersetzung unter http://www.heise.de/TP/issue196/terminal/1028/fhome.htm, 30.5.1996.
Cyberspace und der amerikanische Traum 1995:
Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.8.1995; das englische Original v. 22.8.1994 z.B. unter http://TownHall.com/pff/position.html, 15.4.1995.
Lessig, Lawrence 1998:
The Law of the Horse: What Cyberlaw Might Teach. http://cyber.law.harvard.edu/works/lessig/LNC_Q_D2.PDF, 11.3.1999.
Lessig, Lawrence 1999a:
Open Code and Open Societies: Values of Internet Governance. Draft 2. http://cyber.law.harvard.edu/works/lessig/kent.pdf, 11.3.1999.
Lessig, Lawrence 1999b:
The Limits in Open Code: Regulatory Standards and the Future of the Net. http://cyber.law.harvard.edu/works/lessig/BerkPub.pdf, 10.7.1999.
Lutterbeck, Bernd 1998:
Das Netz ist der Markt. Governance in der Onlineökonomie. In: Das Parlament v. 25.9.1998.
Reidenberg, Joel R. 1998:
Lex Informatica: The Formulation of Information Policy Rules through Technology. In: Texas Law Review, Vol. 76 No. 3 (February 1998), pp.553-593.
  

Fußnoten

[1] Lessig 1999a.  

[2] Reidenberg 1998. Die Tabelle ebd., S. 569, Übertragung ins Deutsch und Erweiterungen durch die Autoren.  

[3] The Open Source Definition, http://www.opensource.org/osd.html, 15.7.1999 (Version 1.4)  

[4] The Open Source Definition (V. 1.4), Artikel 6.  

[5] Lessig 1999a, S. 9f.  

[6] Lessig bezeichnet diesen Wert als "Universal Standing"; vgl. Lessig 1999a, S. 12f.  

[7] Feist v. Rural Telephone Service, U.S. Supreme Court-Entscheidung v. 27.3.1991, 499 U.S. 340 (1991), http://laws.findlaw.com/US/499/340.html  

[8] Vgl. Barlows allgemein bekannte "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von 1996 und – immer noch bemerkenswert – die von Toffler u.a. herausgegebene "Magna Charta des Wissens".